Let it be - Rainer Junghanns


Thailand sept-dec 2014

Rainer Junghanns
1963 in München geboren
1985 Kunstakademie Düsseldorf
1989 1. Preisträger "Kunstort Düsseldorf", Kunstpalast Düsseldorf
1991 1. Preisträger der ersten internationalen Biennale für Zeichnung und Grafik, Györ, Ungarn
Lebt und arbeitet in Düsseldorf



Notizen zu einem Projekt von Rainer Junghanns
von Jürgen Raap

„Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“, Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
„Es wird ein Gehen sein, ein großes, weit über die Grenzen, die sie uns ziehen“, Paul Celan (1920-1970)

Seit die Beatles im Mai 1970 ihr zwölftes und letztes Album „Let it be“ veröffentlichten und der gleichnamige Film in die Kinos kam, ist die englische Redensart mit dem Wortsinn „Lass es geschehen“ oder „Kümmere dich nicht darum“ auch in anderen Sprachräumen geläufig. Im Sinne von „Loslassen“ hat Rainer Junghanns „Let it be“ als Titel und Leitmotiv eines künstlerischen Reiseprojekts gewählt, das ihn ab November 2014 über Thailand zu Vorträgen an der Universität und am Goethe-Institut von Wellington (New Zealand) führt, und dann erneut von Thailand aus in benachbarte Länder wie Laos, Myanmar (vormals Birma bzw. Burma), Singapore und Hongkong.

Unterwegs entsteht an jedem Tag eine künstlerische Arbeit, auch als Zeichnung mit Stift und Papier, dies auch als Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln der bildenden Kunst: Strichzeichnungen mit Kohle oder Kreide sind bekanntlich die kunsthistorisch ältesten Überlieferungen, und wie bei fast jedem anderen bildenden Künstler, so markiert auch bei dem Bildhauer und Multimedia-Künstler Rainer Junghaus das Zeichnen den biografischen Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Denkbar sind als Beiträge zu diesen tagebuchartig angelegten Arbeiten darüber hinaus aber auch Fotos, Videoaufnahmen, Gedichte oder andere Texte. Als Möglichkeit der Publikation kommen blogähnliche Web-Meldungen via Internet in Frage, ebenso eine spätere Katalog-Dokumentation, und des weiteren auch als Inhalte einer Objekt-Skulptur nach einem ähnlichen Prinzip, wie es den Schubladen-Objekten „Light Box Archive“ (2013) und „Khun Load“ (Düsseldorf, Tiblissi/Tiflis 2014) zugrunde liegt.

Mit „Let it be“ knüpft Rainer Junghanns nämlich bewusst an seine früheren Projekte an, von denen manche wie „Trans and Form“ (2001-2004) oder „Neue Tischgemeinschaften“ (2003- 2006) partizipativ und kommunikativ angelegt waren, oder die er als Reiseprojekte durchführte, als „Global Move“ (2005/2006) oder unter dem Arbeitstitel „GMT+ - Greenwich Meantime+“ (2007, 2009 und 2010).
Bei „Trans and Form“ lieferten die eingeladenen Teilnehmer Beiträge für ein „Kulinarisches Archiv“ mit einer Weinflasche und mit Geschichten über eine Weinsorte, die eine persönliche Bedeutung oder einen bestimmten Erinnerungswert für den Erzähler hat. Bereits hier erteilte Rainer Junghanns der traditionellen Plastik eine klare Absage, denn es geht ihm als Künstler niemals um die Produktion statischer Objekte, sondern stattdessen immer um Prozesse mit sozialen Begegnungen und mit einem kommunikativem Austausch in Situationen, die sich ständig verändern. „Let it be“ radikalisiert diese Prozesshaftigkeit dann in einer quasinomadischen Mobilität.
Bereits bei der Realisierung dieses „Trans and Form“-Projekts“ verließ Rainer Junghanns 2001 sein Düsseldorfer Atelier, weil er als Künstler nicht mehr an das „Ritual des Ateliers“ glaubt, in welchem der Künstler in eremitischer Zurückgezogenheit seine Werkstattgeheimnisse hütet. Stattdessen zelebriert er nun „Let it be“ als ein „Ritual der Bewegung in Zeit und Raum“. Das „Unterwegssein“ ist Inspirationsquelle und immer nur temporäre Produktionsstätte zugleich.
Zu den „Neuen Tischgemeinschaften“, die Junghanns 2003-2006 an einer Tischskulptur versammelte, gehörte auch u.a. der „Zeitsammler“ Kurt Creischer. Er erzählte die Geschichte eines Gemäldes, das mit der Jahreszahl „1916“ datiert ist und das eine weißrussische Kirche zeigt, die vermutlich ein deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg gemalt hat. Rund 90 Jahre später unternahm der Zeitsammler eine Reise in diesen abgelegenen Ort, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, wie diese Kirche heute aussieht.

Eine Reise (eigentlich eine Zeitreise) bildete hier die Basis einer „Oral History“. In der Geschichtswissenschaft ist inzwischen diese Methode der Befragung von Zeitzeugen anerkannt, mit der Aufzeichnung von mündlichen Erzählungen aus der subjektiven Warte des persönlichen Erlebnisses den nüchternen Faktizismus zu komplettieren, mit dem Historiker ansonsten Urkunden und andere Archivalien als objektive empirische Überlieferung bearbeiten. Dass dabei die Erinnerung bisweilen lückenhaft ist oder Ereignisse verzerrt wieder gegeben werden, dass mithin auch eine Überformung mit Fiktivem stattfinden kann oder gar eine Mythenbildung, nimmt man dabei in Kauf. Aber bei den Epen, die man sich an den legendären Tafelrunden mittelalterlicher Könige und Gralshüter erzählt haben mochte, kam es letztlich in erster Linie wohl auch immer auf die literarische Spannung und nicht nur auf die Wiedergabe von Tatsachen an.
In heutiger Zeit könnte ein Projekt wie „Let it be“ künstlerisch-poetisch vielleicht ebenso in einen Abenteuerroman oder Schelmenroman münden wie in Grimmelshausens „Der abenteuerliche Simplicissimus“ (1668/69), den es kreuz und quer durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges an die unterschiedlichsten Orte verschlägt: von vorneherein auszuschließen wäre gewiss nicht, dass der Verlauf von „Let it be“ den Charakter eines solchen Entwicklungsromans annimmt, obwohl Junghanns sich als Konzeptkünstler eigentlich immer darauf konzentriert, in seinen Projekten Strukturen zu entwickeln bzw. sie in Strukturen zu unterteilen. Unverzichtbar ist diese Strukturbildung insofern, als erst aus ihr heraus bei den Bildern, Objekten und Filmen und vor allem dann bei der anschließenden Präsentation in Ausstellungen eine konkrete Ästhetik entstehen und kommuniziert werden kann.

Eine solche Strukturbildung geschieht in der medialen und skulpturalen Aufbereitung der Projekte durch Sequenzen in einer bestimmten Abfolge, in einer bestimmten Dauer oder in spezifischem Nebeneinander.
2005 befragte Rainer Junghanns sieben Bewohner in den Townships bei Kapstadt/Südafrika, wie sie sich eine Architektur der Zukunft vorstellen („New Places“). Diese sieben Statements kombinierte er mit einem Videofilm mit Aufnahmen von einer siebenminütigen Autofahrt durch eine Township-Siedlung.
Bei der Aktion „Global Move“ (2005/2006) hatte er mit Fahrten an Land Fotos und Videos von allen Kontinenten zusammen getragen. So unternahm Junghanns in New York eine Autofahrt vom legendären Künstlerhotel „Chelsea“ zu den Piers und wieder zurück. Einen vollen Tag lang wiederholte er diese sieben bis zehn Minuten dauernde Fahrt alle drei Stunden. Aus den dabei entstandenen acht Videos wählte er für die spätere künstlerische Präsentation jeweils eine Minute aus. Nach dem gleichen aktionistischen Grundmuster nahm der Künstler anschließend in Dubai alle drei Stunden die Fassade eines Bankgebäudes mit den veränderten Lichtreflexionen auf der Glasfassade auf. Auch hier wurde in den Drei-StundenIntervallen ein voller Tag, mithin eine volle Erdumdrehung, festgehalten, wobei die (Erd)- Bewegung in diesen statischen Bildern als Reflexe auf der Glasfassade bei der Änderung der Lichtsituation im Tagesverlauf sichtbar wird.
Die „Khun Load“ (2014) ist Resultat eines dreimonatigen Thailand-Aufenthaltes mit täglichen Besuchen im buddhistischen Kloster Watphadarabhirom. Die hölzerne SchubladenSkulptur besteht aus 91 Fächern. Jedes Fach enthält drei Bilder oder Fotos: es sind 91 Sinnsprüche aus dem Tempelgarten, 91 Tempel-Bilder und 91 Fotos aus der Umgebung („Environment“-Bilder). Ähnlich, wie bei „Trans and Form“ die Teilnehmer eine Weinflasche beisteuerten und die südafrikanischen Interviewpartner bei „New Places“ ihre Statements vor der Kamera abgaben, verbindet sich auch bei „Khun Load“ die inhaltliche Strukturierung mit einem partizipativen Element bzw. einem Austausch: die Ausstellungsbesucher in Tiflis konnten einen persönlichen Kommentar aufschreiben und in einem der Fächer deponieren, und dafür durften sie anschließend aus diesem Fach das Environment-Foto mit nach Hause

Strukturgebendes Moment ist bei „Let it be“ die tägliche künstlerische Arbeit, bzw. aus den Zeichnungen oder Fotos, die an einem Tag entstanden sind, die Auswahl eines einzelnen Werks, das alsdann diesen Tag repräsentiert. Zeitintervalle spielen bei Junghanns immer eine große Rolle wie oben beschrieben, hier allerdings nicht als „Tagwerk“ im klassischen Sinne einer Arbeitsleistung, die im Mittelalter ein Tagelöhner von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erbrachte, sondern als Anzahl der Arbeiten entsprechend der Dauer der Reise. Im Vergleich zu den organisatorisch und materiell bisweilen recht aufwändigen früheren Projekten ist „Let it be“ in dieser Hinsicht bewusst reduziert angelegt. Paradoxerweise bildet hier gerade das Weglassen ein strukturgebendes Element.

Der Verweis auf den literarischen Topos des Entwicklungsromans ist bei diesem Reiseprojekt durchaus legitim, weil die Reise zu dem thailändischen Kloster im Frühjahr 2014 und deren Fortsetzung mit „Let it be“ im Herbst 2014 nämlich Züge einer Pilgerreise haben. Die Wallfahrt der Pilger ist immer mit einer Demutsübung verbunden – im Mittelalter musste der Pilger zu Fuß gehen und in einfachen Herbergen oder Klöstern übernachten, wie es heute noch die Pilger auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella tun. Nur Entsagung führt zur Läuterung und zu einem Erleben von Spiritualität. Die drei Grundprinzipien des Buddhismus, nämlich gut zu denken, gut zu handeln und auch nur gute Gedanken an sich heran zu lassen, oder auch die Erkenntnisse, die man auf einer Bildungsreise gewinnen kann, lassen sich nicht einfach ex cathedra als abstraktes akademisches Wissen vermitteln, sondern nur als durchlebte Praxis aneignen, und auch im Zeitalter des Internet nur vor Ort, innerhalb einer realen Reisebewegung.

Als Pionier jener Bildungsreisen im Zeitalter des Humanismus gilt Johann Wolfgang von Goethe mit seiner berühmten „Italienischen Reise“ 1786-88, die aber eigentlich eher eine Art Flucht war, weil er als Minister in Weimar nämlich eine Art „Burn out“-Synndrom spürte, wie man heute sagen würde, mit dem Resultat der zeitweiligen Erlahmung seiner literarischen Schaffenskraft. Vom Kontakt mit dem klassischen Italien erhoffte er sich daher eine neue intellektuelle und künstlerische Beflügelung, und eigenartigerweise reiste Goethe mit der Postkutsche heimlich ab und auf den ersten Etappen sogar unter falschem Namen, um nicht erkannt zu werden. In Italien interessierten ihn auch nur die Überlieferungen aus dem Altertum; die Baukunst der Renaissance und des Barock war ihm hingegen gleichgültig, und ebenfalls die politischen Zeitumstände. Als Goethe nach zwei Jahren nach Weimar zurück kam, hatte er an die tausend Zeichnungen und Aquarelle im Gepäck, dazu ein Tagebuch, das er aber erst 1829 in hohem Alter veröffentlichte.

Bot im späten 18. Jh. für den Archäologen Johann Joachim Winckelmann und den Literaten Goethe die Antike einen ästhetischen und bildungspolitischen Richtwert, so sind es im Zeitalter der Globalisierung für einen Künstler wie Rainer Junghanns eher die asiatischen Kulturräume, die ihn anziehen. Das Kloster als Ort des Zwischenaufenthalts kann dem Pilger eine Heimat im lokalen wie im emotionalen Sinne bieten, und das gilt für die mittelalterlichen Rom-Pilger gleichermaßen wie für den heutigen Reisenden, der ein thailändisches Mönchskloster ansteuert. Kulturenübergreifend und interreligiös sind solche Reisen immer mit rituellen Reinigungen verbunden, und die heiligen Quellen sind oftmals zugleich auch Heilquellen, die Heilung im medizinischen Sinne versprechen, wie das Wasser im Pilgerort Lourdes. Es gibt also nicht nur einen phonetischen, sondern auch einen etymologischen Zusammenhang von „heilig“ und „heilen“, von „sanctus“ und „sanitare“. Das profane Pendant dazu ist die Heilquelle in Kurbädern, wobei um 1780/1800 Reisen zu Kuraufenthalten eigenartigerweise zur gleichen Zeit in Mode kamen wie die ersten Bildungsreisen im Zeitalter der Frühromantik.

Aus 177 bretonischen Brunnen und Quellen zapfte der Künstler Daniel Spoerri Heilwasser in kleinen Fläschchen ab, die er 1981 in einem sechstürigen hölzernen Schrein als „Bretonische Hausapotheke“ ausstellte. Dazu verfasste Spoerri zusammen mit Marie-Louise von Plessen ein Buch über die Heilrituale und über den alten Volksglauben, mit dem man diesen Wässern eine heilende Wirkung oder prophetische Kraft zuschrieb. Im Buchhandel war die Abhandlung übrigens nicht erhältlich – man konnte sie nur im Tausch gegen ein anderes Buch bekommen.

Waren die GMT+ - Reiseprojekte von Rainer Junghanns eher Forschungsexpeditionen, bei denen die (Ver)messung von Positionsangaben und das Notieren des dazugehörigen Datums einen naturwissenschaftlich-technischen Impetus für die künstlerische Aussage bedeutete, so knüpft „Let it be“ jetzt eher an jene literaturgeschichtlichen Vorläufer an, bei denen als kultureller Hintergrund auch Mythos und Mythenbildung, Sehnsuchtsmodelle und emanzipatorische Aspekte eine Rolle spielen: es gibt viele Epen und Romane, bei denen der Held der Erzählung sich unterwegs immer wieder Bewährungsproben unterziehen muss. Das äusserliche (Reise)-Abenteuer und die seelische oder intellektuelle Entwicklung der Protagonisten verlaufen dabei synchron.

Wer sich im 19. Jh. einer Aufbruchstimmung hingab, dem riet man, nach Westen zu reisen, in die USA, und von dort aus als Frontier-Pionier dann noch viel weiter nach Westen. Insofern hat das kitschig-klischeehafte Schlussbild des Western-Kinos, in dem der einsame Cowboy in den Sonnenuntergang hinein reitet, hinsichtlich der kulturellen Orientierung eines solchen Cowboys eine gewisse Symbolkraft. Mit der der Beat-Literatur der 1950er Jahre setzte dann jedoch ein Paradigmenwechsel ein: Jack Kerouacs Romane „On the Road“ (1951/57) und „The Dharma Bums“ (1958) sind stilistisch zwar einer spontanen Prosa zuzuordnen, transportieren vom Lebensgefühl her aber zugleich einen gewissen Neo-Romantizismus und markieren damit eine Hinwendung der Beatniks und später der Hippies in Richtung Osten, zu den asiatischen Kulturen und zu den dortigen Religionen. Mit dem Indien-Aufenthalt der eingangs erwähnten Beatles 1968 erreichte diese Welle einen ersten Höhepunkt.

Die äusseren Umstände (Vortragsreise nach Neuseeland) lassen Rainer Junghanns zufälligerweise in die gleiche Richtung nach Osten aufbrechen, in die Länder der aufgehenden und nicht der untergehenden Sonne.